Tour für blinde und sehbehinderte Menschen

Dauer: ca. 90 Min.
Stationen: 19
Ort: Stirling-Halle

Die Audioführung begleitet Sie mit Audiodeskriptionen der Kunstwerke und Musik an 19 Stationen durch die Ausstellung. Über das Menü können Sie die Sprache einstellen.

  • Willkommen

    Der hochformatige Bildausschnitt zeigt das Portrait eines Mannes im Alter von etwa 30 Jahren. Er sieht den Betrachtenden direkt an. Es ist der Maler Vittore Carpaccio, so wie er sich in einem Gemälde dargestellt hat. Der Bildausschnitt stammt aus einem Gemälde des Ursula-Zyklus, das das Treffen Ursulas und ihres künftigen Ehemanns mit dem Papst vor den Toren Roms zeigt. Der Maler steht dort im Gefolge des Papstes inmitten kirchlicher Würdenträger.

    Er hat braune Augen, eine gerade Nase und einen kleinen Mund mit vollen Lippen. Sein Gesicht ist von einem hellbraunen Bart umrahmt, der über der Oberlippe fein erscheint und an den Wangen dicht und kräftig. Die Locken seiner kinnlangen hellbraunen Haare quellen unter einer schlichten schwarzen Kappe hervor. Der Maler trägt ein schwarzes faltenloses Übergewand. Ein niedriger weißer Stehkragen umschließt den kräftigen Hals des Künstlers.

    …so könnte er ausgesehen haben: der Maler Vittore Carpaccio, der um 1500 in Venedig lebte und dessen Gemälde unsere Vorstellung von dieser Stadt bis heute entscheidend prägen.

    Guten Tag und herzlich willkommen in der Ausstellung »Carpaccio, Bellini und die Frührenaissance in Venedig«. Wir möchten Sie gern mitnehmen in eine quirlige Metropole der frühen Neuzeit, in eine Zeit, in der Venedig eine stolze, wohlhabende Seerepublik war und auf eine ruhmreiche Geschichte zurückblicken konnte. Venezianische Maler wie Vittore Carpaccio und Giovanni Bellini führen in ihren Werken den Mythos Venedigs anschaulich vor Augen.

    Vittore Carpaccio, der im Mittelpunkt der Ausstellung steht, schuf farbenprächtige, detailreiche und faszinierende Bildwelten vor ebenso realistischen wie fiktiven Kulissen der Lagunenstadt sowie den Landschaften des Nahen Ostens. Schiffe, Architekturen, Menschen, Tiere bevölkern seine Gemälde und machen Carpaccio zu einem Chronisten des Alltags im Venedig um 1500… und zu einem der erfolgreichsten Künstler der Frührenaissance.

    Wenn Sie jetzt rechts den ersten Ausstellungssaal betreten, sehen Sie gleich eines seiner wichtigen Werke: eine monumentale Altartafel, in deren Mitte der Dominikanerheilige Thomas von Aquin thront. Die Tafel befindet sich im Besitz der Staatsgalerie und ist im Vorfeld dieser Ausstellung eingehend erforscht und restauriert worden.

    Auf Ihrem Rundgang können Sie übrigens Musik hören, die aus der Zeit von Carpaccio und Bellini stammt – so wird das Venedig der Frührenaissance auch akustisch erlebbar. Die Audiobeiträge werden immer wieder von historischen Musikstücken begleitet, die in Kooperation mit »SWR Kultur« und dem Vokalensemble »The Marian Consort« unter der Leitung von Rory McCleery extra für die Ausstellung eingespielt wurden. 

    Kommen Sie mit in das Venedig vor 500 Jahren und in die Bilderwelten von Vittore Carpaccio, Giovanni Bellini und ihren Zeitgenossen. Sie werden staunen, was sich in diesen Werken alles entdecken lässt!

  • Vittore Carpaccio
    Der hl. Thomas von Aquin mit den Hll. Markus und Ludwig von Toulouse

    Die Altartafel ist mehr als zweieinhalb Meter hoch und fast zwei Meter breit. Die intensiven Farben sind auf Pappelholz aufgebracht. Das Gemälde befindet sich seit 1852 im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart.

    Das Hochformat zeigt drei Männer und einen knienden, etwa zwölfjährigen Jungen unter einem wolkenreichen Himmel mit Maria und Christuskind. 

    Die Himmelsszene nimmt das obere Drittel des Bildraumes ein, der nach oben bogenförmig abschließt. Umgeben von einem goldenen Schein hält die Gottesmutter ihren nackten kindlichen Sohn. Der blickt herab, die Rechte zum Segen erhoben. Um die beiden schweben Engel. Nur ihre Köpfe und Flügel ragen aus den graublauen Wolken. Darunter spannen vier Engel mit größeren Flügeln ein schmales rotes Tuch quer über das Bild. Es trennt den Himmel vom irdischen Geschehen im unteren Teil des Gemäldes. 

    Der wird von den drei Männern und dem Jungen eingenommen. Die Gruppe befindet sich in einem Raum mit zwei Rundbogenfenstern, durch die eine Hügellandschaft vor einer Gebirgskette zu sehen ist. Zwischen den Fenstern, im Zentrum des Bildes, thront einer der Männer auf einem Podest. Er trägt ein weißes Gewand, darüber einen Mantel und einen Überwurf mit Kapuze in Schwarz. Der Mönch, es ist der Heilige Thomas von Aquin, sitzt hinter einem Pult, auf dem ein dickes aufgeschlagenes Buch liegt. Seine Linke ruht darauf, die Rechte hat er erhoben. Der ausgestreckte Zeigefinger weist nach oben zum Himmel. 

    Das kniehohe Podest hat zwei Türen. Die linke ist weit geöffnet, an der rechten, halb geschlossenen, steckt ein Schlüssel. Ein weiterer hängt daran. Im Inneren des Podestes liegt ein Bücherstapel. 

    Links neben Thomas von Aquin steht ein Mann mit dunklem Vollbart, der Heilige Markus. Er trägt ein rotes, langes und faltenreiches Gewand. Ein blaugrünes Tuch ist um Schulter und Hüften geschlungen. Seine bloßen Füße stecken in Sandalen. Der Heilige hält ein aufgeschlagenes Buch und blickt konzentriert zu dem Mann auf der rechten Seite. 

    Der Mann rechts, Ludwig von Toulouse, trägt eine Mitra und einen rot-gold gemusterten Umhang über einem weißen, rot gesäumten Gewand, das ihm bis über die Füße fällt. In seiner linken hält er einen Krummstab, in der Rechten ein aufgeschlagenes Buch. Der Bischof zeigt die bedruckten Seiten dem Heiligen Markus. Rechts neben Ludwig von Toulouse, zu Füßen des Thomas von Aquin, kniet der Junge in einem blauen, fellgesäumten Mantel. Er ist in der Art eines Stifterporträts dargestellt, hat die Arme vor der Brust gekreuzt und blickt zu Thomas von Aquin hinauf. 

    Auf dem Boden, mittig am unteren Bildrand, befindet sich ein gemalter Zettel mit der Signatur des Künstlers und der Datierung in Latein.

    Drei Heilige im Gespräch: Am linken Bildrand steht der heilige Markus – der Patron der Stadt Venedig. Mittig thront der heilige Thomas von Aquin an einem Schreibpult; zu seinen Füßen kniet der Sohn des Stifters dieser Tafel. Und rechts steht der heilige Ludwig von Toulouse im Bischofsornat. 

    Was verbindet diese Figuren? Theologisch betrachtet, nicht allzu viel. Sie lebten zu unterschiedlichen Zeiten und können sich daher nie begegnet sein. Doch sie tragen die Vornamen einer bedeutenden venezianischen Familie – der Dragan. Tommaso Dragan und sein Schwager Marco gehörten zu einer Generation, die die Glasherstellung revolutioniert hatte. Dank hochwertiger, von weither importierter Rohstoffe und neuer Fertigungstechniken konnte ab dem späten 15. Jahrhundert ein besonders qualitätvolles und reines Weißglas produziert werden: das Luxusprodukt Kristallglas.

    Darauf verweist auch die Bibelstelle aus der „Offenbarung des Johannes“, die Ludwig in den Händen hält:

    „Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus.“

    Als Carpaccio das bestellte Altargemälde auslieferte, dürfte es jedoch zu einem kleinen Eklat gekommen sein. Schauen Sie einmal auf die Wolken, die sich oben vor den Schreibplatz des heiligen Thomas schieben und so eine zweite Ebene in der Komposition bilden: Die ein rotes Band haltenden Engel und die beiden roten Engelsköpfchen scheinen nachträglich in das Altarbild gekommen zu sein… Und tatsächlich: Infrarotuntersuchungen machten kürzlich eine darunterliegende Unterzeichnung sichtbar. Sie können eine Infrarot-Aufnahme als zweite Abbildung der Station sehen. Über den Köpfen von Markus und Ludwig ist dort deutlich eine Bogenarchitektur mit kreisrunden Glasscheiben zu erkennen: sogenannte Butzenscheiben – die damals übliche Art, Fenster zu verglasen.

    Offenbar war Carpaccio einem Missverständnis aufgesessen: Die aufstrebende Familie Dragan hatte ihren Reichtum nicht der Herstellung ordinärer Butzenscheiben zu verdanken, sondern der Fertigung vergoldeter und emaillierter Kristallgefäße! Vermutlich wiesen die Dragan das Gemälde empört zurück und zwangen Carpaccio zu einer hastigen Umarbeitung.

    In dem zu dieser Altartafel ausgewählten Musikstück von Alexander Demophon Venetus wird Maria, die Muttergottes, direkt angesprochen: „Volgi gli occhi, o madre pia“ – „Wende deine Augen, oh fromme Mutter“. Sie können die Musik über den zweiten Player in voller Länge abrufen.

  • Vittore Carpaccio
    Ankunft der Gesandten in der Bretagne

    Die hier ausgestellten Reproduktionen des neunteiligen Ursula-Zyklus sind im Verhältnis zu den Originalwerken deutlich verkleinert und bilden diese mit nur 60% ihrer eigentlichen Größe ab. Trotzdem ist die Reproduktion des ersten Gemäldes des Zyklus immer noch knapp 1,70 Meter hoch und gut 3,50 Meter breit. Alle originalen Werke des Ursula-Zyklus befinden sich in der Gallerie dell’Accademia in Venedig.

    Das riesige Querformat zeigt den Blick in drei nebeneinanderliegende Räume eines Gebäudes, das sich in die Tiefe des Bildraums erstreckt. Der mittlere Raum ist doppelt so groß wie die Räume links und rechts. 

    Der linke Raum ist ein Arkadengang, der vom Bildvordergrund in den Hintergrund verläuft. Zwischen den schräg nach hinten aufgereihten Säulen und Pfeilern sieht man am linken Bildrand einen Kanal. Darauf schwimmt eine Gondel. Einige bunt gekleidete Männer stehen unter den Arkadenbögen im Gang, manche lehnen am Geländer zwischen den Stützen. Andere Männer lugen zwischen den Pfeilern hindurch in den mittleren Raum.

    Dort führen Stufen auf ein Podest mit einem Thron an der rechten Wand der Loggia. Auf den Stufen sowie vor dem Podest knien je zwei Männer, die respektvoll ihre Kopfbedeckung abgenommen haben. Drei der Gesandten haben halblange blonde Haare, der vierte ein kurzgeschorenes Haupt. Der Vorderste ist in ein goldbesticktes Gewand gekleidet. Er überreicht dem dunkelhaarigen König auf dem Thron mehrere Blätter Papier. Der König mit Namen Maurus trägt Krone und Zepter. Er ist in ein goldenes Gewand gehüllt und wird zu beiden Seiten von je zwei sitzenden Männern flankiert. Sie alle tragen dunkle Kappen. 

    Die Loggia ist durch ein Geländer von einem weiten Platz im Hintergrund getrennt, der von einer Vielzahl an Männern bevölkert ist. Einige blicken über das Geländer herein. Der Platz wird durch einen Kanal mit zwei Segelschiffen begrenzt, hinter denen sich prächtige Stadthäuser und ein großer achteckiger Bau mit Kuppeldach erheben.

    Eine Wand trennt die Loggia von dem erhöht liegenden Raum rechts. Am Fuß einer Treppe, rechts unten im Bild, sitzt eine alte Frau mit Stock – es ist Ursulas Amme. Zu einem schwarzen Kleid trägt sie ein Schultertuch und eine Haube in Weiß. Sie blickt in die Ferne. Die Stufen enden in dem erhöht liegenden Raum, Ursulas Schlafzimmer. 

    Dort sitzt, neben einem Bett mit Baldachin, König Maurus, den Kopf in die Hand gestützt. Vor ihm steht seine Tochter Ursula in einem blauen Kleid. Darüber liegt ein breites rotes Tuch wie eine Schärpe. Ihre langen blonden Haare sind am Hinterkopf in einem Zopf zusammengefasst. Ursula blickt zum Vater und tippt mit ihrem rechten Zeigefinger auf die Finger an der linken Hand, als würde sie etwas aufzählen. An der Wand hinter den beiden hängt ein Madonnenbild in goldenem Rahmen.

    „Es war […] ein frommer König, […] Maurus mit Namen, der hatte eine Tochter, die hieß Ursula. Die war so ehrbaren Wandels, so weise und so schön, dass ihr Name flog weiter durch die Lande. Da war auch der König von Engelland, […] vor den kam der Ruhm dieser Jungfrau, also dass er sprach: er wäre über alles selig, wann er die Jungfrau seinem einigen Sohn könne zum Weibe geben.“

    So beginnt die Erzählung des Martyriums der heiligen Ursula. Die darauf folgende Szene spielt sich hier vor Ihren Augen ab: Die Gesandten des englischen Königs sind am Hof eingetroffen. In silber- und goldbestickten Damastkleidern knien sie vor König Maurus und überreichen ihm den Brief, in dem ihr Herr um die Hand der Königstochter Ursula anhält. Maurus nimmt das Schreiben entgegen, vier Berater beobachten die Szene skeptisch.

    Carpaccio inszeniert diese Zeremonie in Anlehnung an die Gepflogenheiten des venezianischen Dogenhofs – und dies ist kein Versehen, sondern ein selbstbewusstes Statement: Im 15. Jahrhundert hatten sich erste diplomatische Kontakte entwickelt und die Venezianer richteten erste Botschaftersitze in anderen Ländern ein. Die reiche Handelsstadt Venedig zählt zu den ersten Stadtstaaten, die diplomatische Beziehungen pflegten – Heiratsallianzen eingeschlossen.

    Möchten Sie wissen, wie sich die schöne Ursula entschied? Sie sehen es rechts im Gemälde: Maurus überbringt seiner Tochter das Heiratsgesuch und blickt sorgenvoll drein. Das Problem: Der englische König und sein Sohn sind noch nicht zum Christentum übergetreten. Ursula allerdings hat sich bereits entschieden. An ihren Fingern zählt sie dem Vater ihre Bedingungen auf. Ihre alte, weise Amme sitzt vor dem Gemach und blickt düster in die Zukunft.

  • Vittore Carpaccio
    Begegnung der Verlobten und Abreise zur Pilgerfahrt

    Die Reproduktion misst über 3,50 Meter in der Breite. Und ist fast 1,70 Meter hoch.

    Die Reproduktion zeigt das Geschehen wie in einem Theaterstück in drei Szenen im Vordergrund. Den detailreichen Hintergrund bildet eine Bucht, die links von einem Berg mit Burgen und rechts von einer Stadtlandschaft begrenzt ist. Mehr als hundert Personen bevölkern Burgen und Stadt, mehrere Schiffe und Boote liegen in der Bucht.

    Links im Vordergrund drängen sich Männer in bunten Gewändern auf einer schmalen Landzunge. An ihrer Spitze kniet der blondgelockte langhaarige Prinz Ätherius vor seinem Vater. Beide tragen blaue Tuniken mit roten Säumen, darüber Umhänge. Der Sohn hält seine Kopfbedeckung in der linken Hand, die rechte hat er dem Vater zum Abschied gereicht. Ätherius blickt zu ihm auf.

    Ein Fahnenmast trennt diese Szene vom Geschehen rechts. Er ragt in einen hellblauen Himmel mit vereinzelten großen weißgrauen Wolken. Der Sockel des Mastes ist aus Marmor. An ihm ist die Signatur Carpaccios angebracht. Rechts neben dem Sockel steht Ätherius in einem voll besetzten Boot. Er trägt nun enganliegende Beinkleider zu einer kurzen, schwarz-weiß gemusterten Jacke. Der Prinz reicht Ursula zum Zeichen ihrer Verlobung die Hand. Sie steht am Ende eines Steges und rafft mit der anderen Hand ihr rotes langes Kleid mit schwarz-weißen Ärmeln. Hinter Ursula steht eine Frau im rosa Kleid und grünem Umhang. Ein weißer Schleier liegt über ihren Haaren. Die Frau blickt über ihre Schulter hinter sich auf den Steg.

    Ihr Blick führt die Betrachtenden in die dritte Szene ganz rechts, in der die Verlobten, Ätherius und Ursula, vor König Maurus auf einem Steg knien, um Abschied zu nehmen. Der Prinz ist in ein rotes wallendes Gewand gekleidet, Ursula in ein golddurchwirktes Kleid mit blauen Ärmeln. Sie hat ihrem Vater die Hand gereicht. Der hat sich vorgebeugt und streicht seiner Tochter mit der freien Hand durch das offene Haar. Hinter ihm steht Ursulas Mutter Daria, die Königin. Sie trägt ein kurzärmeliges blaues Kleid mit einem silberfarbenen Kreuz auf einem Ärmel und einen weißen Schleier, der ihre Haare verdeckt. Mit einem weißen Tuch wischt sie sich über die rechte Wange.

    Die schöne Ursula und der englische Prinz Ätherius – hier begegnen sie sich zum ersten Mal. In der linken Bildhälfte nimmt der blondgelockte Ätherius Abschied von seinem Vater. Er kniet nieder und reicht ihm die Hand. Links vorn betrachtet eine Gruppe von Männern die Szene. Der Mann ganz rechts blickt uns direkt in die Augen und sein Nachbar weist uns mit der Hand auf die Abschiedsszene hin.

    Rechts vom Fahnenmast geht die Geschichte weiter: Ätherius und Ursula begegnen sich und reichen sich ehrfurchtsvoll die Hand. Sie sind nun verlobt. Doch die Bedingungen, die die fromme Ursula diktiert hatte, sind umfassend: Ätherius solle sich zum Christentum bekehren. Und mit einem Gefolge von 11.000 Jungfrauen solle das Paar zu einer Pilgerreise nach Rom aufbrechen.

    Daher muss nun auch Ursula Abschied nehmen: Ganz rechts knien die Verlobten vor Ursulas Vater nieder, ihre Mutter wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Im Hintergrund lassen sich zahlreiche Menschen zu den bereitstehenden Schiffen übersetzen. Auf dem Steg: das verlobte Paar.

    Die neun Gemälde des Ursula-Zyklus waren ein Auftragswerk der Laienbruderschaft Scuola di Sant’Orsola und schmückten deren Versammlungssaal in Venedig. In maßstabsgetreuer Verkleinerung haben wir die ursprüngliche Hängung der Szenen hier in unseren Räumen rekonstruiert.

    Am 16. November 1488 hatte der gut zwanzigjährige Carpaccio den umfangreichen Auftrag der Laienbrüder erhalten, im Jahr 1500 vollendete er das letzte der neun Gemälde. Es sind mit die ersten Werke, die Carpaccio mit eigenem Namen signiert hat, und das auf ganz besondere Art und Weise: Auf jedem der Gemälde finden Sie einen äußerst realistisch gemalten Zettel, der wie zufällig irgendwo hängt oder herumliegt. Dieser so genannte cartellino trägt die lateinische Signatur und Datierung. Im Fall dieser Szene: VICTORIS CARPATIO VENETI OPUS 1495.

    Haben Sie den cartellino hier schon gefunden?

  • Vittore Carpaccio
    Traum der hl. Ursula

    Das Originalgemälde weist ein nahezu quadratisches Format mit Seitenlängen von nahezu drei Metern auf. Die Seitenlängen der hier gezeigten Reproduktion betragen jeweils um 1,60 Meter. 

    Im Bild ist ein Zimmer mit der in einem Bett schlafenden Ursula dargestellt. Ein barfüßiger blonder Engel steht in der Nähe des Fußendes, unten rechts im Bild. Durch eine Türöffnung hinter ihm strömt helles Licht in den sehr hohen Raum. Es lässt die Falten seines bodenlangen Gewandes in verschiedenen Blautönen erscheinen. Die großen braunen Flügel ragen über seine Schultern nach oben. Der Engel hält einen langen Palmzweig. Sein Blick ist auf Ursula, links unten im Bild, gerichtet.

    Die Prinzessin liegt auf dem Rücken in dem breiten Bett unter einem weißen Laken, das über eine rote Decke geschlagen ist. Ihre rechte Hand hat sie an die Wange gelegt. Der Kopf ruht auf einem weißen Kissen. Die Krone ist am Fußteil des Bettes, auf einer Bank, platziert. Das Bett hat vier schmale hohe Pfosten, die einen roten Baldachin tragen. Dieser verläuft parallel zur oberen Bildkante. Vor dem Bett liegen blaue Schuhe auf einem Teppich.

    Hinten links im Zimmer befindet sich eine zweite Tür. Sie steht offen. Rechts daneben sind zwei Rundbogenfenster. Der Himmel dahinter erscheint blau. In den Fensternischen stehen grünende Pflanzen in Gefäßen aus Keramik. Weiterhin ist der Raum mit einem Bücherregal, einem viereckigen Holztisch mit Buch und Schreibfeder, einem Hocker, einem Stuhl neben dem Bett und einem Andachtsbild ausgestattet.

    Die Pilgergruppe hat in Rom Quartier bezogen. Ursula schläft unter einem Baldachin, in einem fein möblierten Gemach. Die Krone am Fußende ihres Bettes weist sie als Königstochter aus.

    Wir haben Zeit, uns im Raum umzusehen: An der Wand hinter der Schlafenden hängt ein kleines Andachtsbild mit Kerze und einem Gefäß für Weihwasser, dahinter öffnet sich eine Tür, die von einer antiken Statuette bekrönt ist. In den Fenstern stehen zwei Kübel mit Myrrhe und Nelken – Symbole für Liebe und Ehre. Rechts davon: ein halbhoher Bücherschrank, davor ein Hocker und ein niedriger Tisch, auf dem mehrere Bücher, ein Stundenglas und eine Schreibfeder zu erkennen sind.

    Es ist früher Morgen. Von rechts ist ein Engel in den Raum getreten, um der friedlich schlafenden Ursula im Traum ihr nahendes Martyrium zu verkünden. Und genau so wird es kommen: Auf ihrer Rückreise werden Ursula, Ätherius, der Papst und die 11.000 Jungfrauen durch Köln kommen und den Hunnen in die Hände fallen. Die gesamte Pilgergruppe wird von Pfeilen durchbohrt oder erschlagen werden – auch Ursula, die sich dem Sohn des feindlichen Feldherrn nicht ergeben will und als Märtyrerin in die Kirchengeschichte eingehen wird.

    Für den Gemäldezyklus, den die Laienbruderschaft Scuola di Sant’Orsola über das Leben und Sterben ihrer Namenspatronin in Auftrag gegeben hatte, entwarf Carpaccio Szenen in großer Detailtreue. Und er schöpfte für seine Bildfindungen aus den unterschiedlichsten Inspirationsquellen: aus der Literatur und dem Theater, zeitgenössischen Architekturzeichnungen, der Seefahrt sowie der venezianischen Hof- und Alltagskultur. Dadurch etablierte er sich als Geschichtenerzähler und Chronist des gesellschaftlichen Alltags im frühneuzeitlichen Venedig.

  • Vittore Carpaccio?
    Mann mit rotem Barett

    Dieses kleine Hochformat von rund 35 x 22 Zentimetern ist in Tempera auf Holz gemalt. Es stammt aus dem Museo Civico Correr in Venedig.

    Dargestellt ist ein Mann um die Dreißig im Portrait. Kopf und Schultern füllen nahezu den gesamten Bildraum aus. Das schmale Gesicht des Mannes ist leicht aus der Frontalansicht zur rechten Seite gedreht. Seine blauen Augen blicken unter den buschigen braunen Brauen auf die Betrachtenden herab. Er hat eine gerade Nase mit einem langen Nasenrücken. Der kleine Mund mit schmalen Lippen ist geschlossen. Die rosigen Wangen sind glattrasiert, das Kinn hat ein kleines Grübchen. Schulterlanges krauses kastanienbraunes Haar umrahmt das Gesicht. Auf dem Kopf trägt der Mann ein kleines Barett in Rot. Die Kopfbedeckung aus weichem Stoff ähnelt in ihrer Form einer Mütze. 

    Der Mann trägt ein matt blaues Obergewand mit niedrigem schwarzen Stehkragen. Dieser ist mit einem grünen Palmettenmuster verziert. Über dem Kragen lugt ein schmaler Streifen seines weißen Hemdes hervor. Ein roter Mantel, ebenfalls mit Stehkragen, liegt über den schmalen abfallenden Schultern. Je zwei runde flache Silberknöpfe sind an den Enden des Mantelkragens befestigt. Durch die Knöpfe links ist eine goldene Schnur gefädelt.

    Den Hintergrund bildet eine bewaldete Küste mit einigen Gebäuden. Die Bäume entlang des Ufers spiegeln sich in der Wasseroberfläche. Am Horizont erheben sich hintereinanderliegende Bergketten. Der Himmel, der über den Berggipfeln weißgrau erscheint, verdunkelt sich zu einem Mittelblau am oberen Bildrand.

    Was er wohl denken mag, dieser Herr mit seinem schiefsitzenden Barett, der uns aufmerksam mustert? Er hat die schmalen Lippen zusammengekniffen und hält sich sehr aufrecht. Der Porträtierte kommt aus gutem Hause und gehört zur venezianischen Oberschicht. Das zeigt nicht nur sein selbstbewusster Blick, sondern auch seine Kleidung: der leuchtend rote Mantel und das blaue Obergewand mit dem weißen Hemd.

    Doch wer war dieser Herr? Trotz der individuellen Gesichtszüge wissen wir das heute nicht mehr. Auch die stimmungsvolle Landschaft, vor der er zu stehen scheint, gibt keinen Hinweis auf seine Person.

    Das ist schade, denn der Maler hat mit großer Sorgfalt die Mimik und die Persönlichkeit des Porträtierten herausgearbeitet. Waren Angehörige der Oberschicht bislang eher als Repräsentanten ihres Ranges und ihrer gesellschaftlichen Rolle porträtiert worden, so vollzieht sich kurz vor 1500 ein Wandel: Einige Maler – darunter auch Vittore Carpaccio – machen sich auf die Suche nach der Individualität, dem Charakter ihrer Modelle. Sie schaffen Porträts von großer Lebendigkeit. Und tatsächlich: Der unbekannte Herr mit seinem roten Barett könnte im nächsten Moment das Wort an uns richten, so lebensecht ist er dargestellt.

    Schauen Sie sich auch die anderen Porträtierten hier im Raum an. Manche sind eher statisch dargestellt, andere lebendig und individuell. Und einige haben Carpaccio und seine Malerkollegen sogar mit einem augenzwinkernden, fast humorvollen Blick porträtiert.

  • Gentile Bellini
    Caterina Cornaro, Königin von Zypern

    Das Porträt im Hochformat ist mit Ölfarben auf Holz gemalt und misst rund 60 x 50 Zentimeter. Es ist eine Leihgabe aus dem Szépművészeti Múzeum in Budapest.

    Die Königin von Zypern ist hier vor schwarzem Hintergrund dargestellt. Sie ist vom Scheitel bis zur Taille abgebildet, so dass ihr Körper nahezu die gesamte Bildfläche ausfüllt. Als dieses Bild gemalt wurde, war Caterina Cornaro 46 Jahre alt. 

    Die Königin wendet ihren Kopf im Dreiviertelprofil nach rechts. Ihre mandelförmigen braunen Augen liegen unter sehr schmalen Brauen. Der Blick wirkt entschlossen. Sie hat eine gerade Nase, einen kleinen Mund und runde Wangen. Perlenohrringe zieren ihre Ohrläppchen. Das in der Mitte gescheitelte braune glatte Haar verschwindet größtenteils unter einer goldbestickten enganliegenden Haube mit Perlen. Auf der Haube sitzt eine Krone mit kleinen Zacken. Der niedrige Kronreif ist mit Perlen und verschiedenfarbigen Edelsteinen verziert. Ein transparenter Schleier liegt über Wangen und Nacken, ein schmaler Steg hält ihn an der Stirn. Kleine Gewichte mit Perlen sind an seinen Enden befestigt. 

    Caterina Cornaro trägt ein weit ausgeschnittenes bronzefarbenes Brokatkleid mit langen Ärmeln. Entlang des Ausschnitts verläuft eine Perlenreihe. Unter der Brust ist das Kleid geschnürt. Ein Perlenband führt um ihren Nacken und kreuzt sich über dem Dekolleté. Seine Enden sind mit der Perlenreihe entlang des Ausschnitts verbunden. Eine kleingliedrige massive Kette mit einem spitzen Anhänger und einer großen Perle hängt um den Hals der würdevoll wirkenden Frau. 

    In der linken oberen Ecke des Bildes befindet sich in einem kleinen dunkelroten Rechteck eine lateinische Inschrift in goldenen Buchstaben. Der Aufzählung von Herkunft, Namen und Titel der Caterina Cornaro folgen die Sätze: „Zypern dient mir. Du siehst, wie bedeutend ich bin, doch größer noch ist die Hand des Gentile Bellini, die mich auf so einem kleinen Täfelchen wiedergegeben hat.“

    Caterina Cornaro war eine der wichtigsten Frauen der venezianischen Geschichte.

    Aus einer reichen und angesehenen Patrizierfamilie stammend, wurde sie 14-jährig mit dem König von Zypern verheiratet. Ein kluger Schachzug, denn die Insel Zypern war wichtig für die Handelsmacht Venedig, die ihren Einfluss im östlichen Mittelmeer ausbauen wollte. 

    Vier Jahre nach der Hochzeit, die in Abwesenheit des Bräutigams stattgefunden hatte, verließ Caterina schließlich Venedig und zog nach Zypern. Doch keine acht Monate nach ihrer Ankunft starb ihr Ehemann… und die Seerepublik Venedig frohlockte. Sie zwang Caterina – die Königin von Zypern – zur Abdankung und übernahm selbst die Verwaltung dieser strategisch so wichtigen Insel.

    Caterina wurde mit einem repräsentativen Anwesen in der kleinen Stadt Asolo in der Nähe von Venedig entschädigt. Die entmachtete Königin lebte dort umgeben von Gelehrten und Künstlern und richtete Feste mit Schauspielen und Turnieren aus.

    Aus dieser Zeit stammt auch das Porträt, das Gentile Bellini von Caterina Cornaro schuf. Gentile, der ältere Bruder von Giovanni Bellini, stellte Caterina sehr würdevoll vor einem tiefschwarzen Hintergrund dar. Sie blickt zur Seite, nimmt keinen Kontakt mit uns auf und zeigt keine emotionale Regung. Sie wirkt wie eingeschlossen in die Strenge ihres Porträts.

    Caterina Cornaro hatte – wenn auch unfreiwillig – ihrer Heimat Venedig zur Herrschaft über Zypern verholfen und deren Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer bestätigt. Sie war als Faustpfand in einem wirtschaftlichen und militärischen Machtpoker eingesetzt worden. Ihre Individualität und Persönlichkeit spielten für den Porträtisten keine große Rolle.

    Das Musikstück, das Sie hier hören können, heißt „Non si vedra gia mai“ („Du wirst niemals sehen“) – und bezieht sich direkt auf Caterinas Hof in Asolo. Denn der Komponist des Stücks, Antonio Caprioli, vertonte hier Textstellen aus den so genannten „Asolani“ – einer Liebesdichtung, die am Hof von Caterina Cornaro spielt.

  • Vittore Carpaccio
    Frau mit Buch

    Der Künstler hat das kleine Hochformat mit Ölfarben und Tempera auf Holz gemalt. Es misst 40 x 30 Zentimeter und stammt aus der Sammlung des Denver Art Museums in den USA.

    Das Gemälde zeigt eine Frau mittleren Alters vor einem rostroten Vorhang. Ihre rechte Hand umfasst ein aufgestelltes geschlossenes Buch.

    Das Portrait der Frau nimmt nahezu die gesamte Bildfläche ein. Mit aufmerksamem Blick wendet sie sich im Dreiviertelprofil nach links. Ihr Gesicht ist oval, mit schmalen Brauen über den braunen, etwas hervortretenden Augen. Sie hat eine große Nase mit weiten Nasenflügeln, einen kleinen Mund mit schmalen Lippen und ein leichtes Doppelkinn. Ihre Wangen sind rosig. Das dunkelblonde, in der Mitte gescheitelte Haar ist zum Teil mit einem Haarnetz bedeckt. Einzelne kinnlange gewellte Strähnen fallen an den Schläfen herab. Das ockerfarbene Haarnetz ist mit blütenartig angeordneten weißen Perlen geschmückt. 

    Die Dargestellte trägt ein dunkles Brokatkleid mit Trapezausschnitt, der von einer Goldborte und Perlen gesäumt ist. Um ihren Hals liegt eine schlichte goldene Kette. 

    Golden ist auch die Schließe am Buch, rechts unten im Bild. Eine solche Metallkonstruktion an den langen Seiten des vorderen und hinteren Buchdeckels diente unter anderem dazu, ein Buch zu verschließen. Vergoldet ist auch der Schnitt des Buchs. Dabei handelt es sich um die drei Seiten, an denen ein Buch geöffnet werden kann. Zudem ziert ein silberfarbenes geschwungenes Muster den dunklen Einband. Es umläuft den Buchdeckel wie ein Rahmen.

    Ungefähr zur selben Zeit, in der Bellini Caterina Cornaro, die Königin von Zypern, porträtierte, malte Carpaccio diese wohlhabende Patrizierin.

    Vergleichen Sie einmal die beiden Frauenporträts: Wie Caterina Cornaro ist auch Carpaccios Modell im Dreiviertelprofil dargestellt, vom Betrachtenden leicht abgewandt. Ihr kostbares Brokatkleid wird von goldfarbenen Borten und einer Perlenreihe geschmückt. Auf dem Kopf trägt sie eine perlenbesetzte Haube, unter der einzelne Strähnen des gescheitelten Haares hervortreten. Unter einer hohen Stirn blicken die braunen Augen in die Ferne. Ihr Nasenrücken ist markant, ihr Mund klein, die Lippen wirken über dem leichten Doppelkinn schmal. Carpaccios Porträt zeigt eine selbstbewusste Frau mit individuellem Ausdruck.

    Das Buch, das die Frau in der Hand hält, unterstreicht das noch: Auch ohne den Inhalt des Buches zu kennen, deuten wir es als Hinweis auf Bildung. Der Goldschnitt und die kostbare Schließe des Buches finden ihre Fortsetzung in den Goldborten des kostbaren Kleides, das filigrane Muster des silbern schimmernden Einbandes korrespondiert mit der Feinheit der leicht gewellten Haarsträhnen und den geschwungenen Ziernähten ihres Ausschnitts.

    Kleinformatige Porträts waren beim venezianischen Patriziat und Bürgertum sehr beliebt. Carpaccio nahm diesen Trend auf, variierte seine Bildnisse jedoch auf sehr individuelle Art: Er ließ die Hände der Porträtierten im Bild erscheinen, stattete sie mit Attributen – wie dem Buch – aus und arbeitete auf diese Weise den individuellen Charakter der Dargestellten heraus.

  • Vittore Carpaccio
    Der hl. Georg bezwingt den Drachen

    Dieses Gemälde ist mit Ölfarben auf eine Leinwand gemalt. Es besteht aus dem über 2 Meter hohen und fast zwei Meter breiten Hauptbild und vier kleinen querrechteckigen Szenen am unteren Bildrand.

    Das Hauptbild zeigt im Zentrum den Heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen vor einer bergigen Landschaft. 

    Der Heilige galoppiert von rechts auf seinem braunen Pferd heran. Er sitzt in einem roten Sattel mit goldenen Nieten, die roten Zügel sind gespannt. Georg trägt eine silbern glänzende Rüstung sowie ein Schwert mit goldenem Griff, das in einer roten Scheide an seiner Hüfte hängt. Sein Kopf mit den langen blonden Locken ist ungeschützt und von einem schmalen Heiligenschein umgeben. 

    In seiner rechten Hand hält Georg eine Lanze, mit der er den aufgerissenen Schlund des Drachen durchbohrt. Das grünliche Fabelwesen hat ein längliches Maul voll scharfer Zähne, kurze muskulöse Gliedmaßen mit langen Klauen und kleine Flügel. Der Drache steht auf den Hinterbeinen, sein kräftiger Hals ist nach hinten gebogen. Blut tropft aus seinem Maul und fließt aus der Wunde am Hinterkopf über seinen Rücken auf den Boden. 

    Auf dem spärlich bewachsenen Untergrund liegen verteilt ein menschlicher Fuß mit Unterschenkel, ein Oberkörper mit Kopf sowie menschliche und tierische Schädel.

    Mittig am rechten Bildrand kniet in sicherer Entfernung eine betende Frau neben einem Laubbaum und beobachtet die Kampfszene. Die junge Frau ist die Königstochter, die dem Drachen geopfert werden sollte. 

    Rechts oben im Bild befindet sich eine ummauerte Stadt mit Türmen. Links daneben auf einem Hügel drängen sich Schafe vor einer Hütte. Vor den Toren der Stadt kniet ein Mann in rotem Mantel. Es ist der Heilige Stephanus, umringt von Menschen, die Steine in ihren erhobenen Händen halten. 

    In der linken oberen Bildecke sind zwei Einsiedler zwischen gezackten Felsen dargestellt. Der eine liegt zwischen halbhohen Pflanzen am Boden, der andere lehnt lesend an einem moosbewachsenen Stein neben einem Höhleneingang. 

    Die vier kleinen querrechteckigen Szenen entlang des unteren Bildrandes zeigen vier Martyrien des Heiligen Georg. Wie viele christliche Heilige wurde er der Überlieferung nach gefoltert, um ihn zur Abkehr vom Christentum zu bewegen. Die Darstellungen sind durch einen gemalten Steinrahmen vom Hauptbild und voneinander getrennt. Die erste Szene zeigt beispielsweise den an eine Säule gefesselten Georg. Zwei Männer mit Turban reißen mit Metallstangen Wunden in seinen Körper. In der Szene daneben wird Georg in einem Kessel, unter dem ein Feuer brennt, gefoltert.

    Das ist der entscheidende Moment! Der heilige Georg reitet frontal auf den Drachen zu und durchsticht mit seiner Lanze die Kehle des Untiers. Es ist das Ende der Bedrohung der Stadt Silena und ihrer Bewohner sowie der Triumph des christlichen Ritters. Die Überreste der bisherigen Opfer des Drachen – Menschen und Schafe – liegen noch am Boden verstreut. Die Königstochter, die dem Drachen als nächste geopfert werden soll, kauert rechts im Hintergrund neben einem Baum und betet für einen guten Ausgang des Kampfes.

    Hinter ihr, vor den Toren einer großen Stadt, geht es um eine andere Legende der christlichen Heilsgeschichte: In einen roten Mantel gekleidet, kniet der heilige Stephanus auf der Erde und wird sogleich gesteinigt werden. 

    Und in die hoch aufragende Felsenlandschaft links haben sich zwei Einsiedler zurückgezogen: Es sind Hieronymus und Benedikt von Nursia – ein naheliegender Verweis, schließlich schuf Carpaccio dieses monumentale Gemälde für das Kloster San Giorgio Maggiore, das der Regel des heiligen Benedikt folgte.

    Der heilige Georg ist auch der Protagonist der vier kleinen Szenen unten. Sie zeigen die Martyrien, die Georg durchlitt, bevor er im Jahr 303 schließlich enthauptet wurde – so berichten es zumindest die christlichen Legenden.

    Wie realitätsgetreu die Erzählung um den heldenhaften Drachentöter ist, sei dahingestellt. Der Kampf gegen das Böse inspiriert Künstlerinnen und Künstler aber bis heute. Wenden Sie sich um und schauen Sie auf die gegenüberliegende Wand – beziehungsweise auf Ihren Bildschirm. Hier hat der zeitgenössische chinesische Künstler Ai Weiwei Carpaccios Drachenkampf nachgestellt – unverkennbar und doch nicht richtig zu erkennen. Ai Weiwei montierte Legosteine auf Aluminium und „verpixelte“ Carpaccios Meisterwerk durch diese Technik. Jahrhundertealte feine Pinselstriche treffen auf zeitgenössische digitale Ästhetik – die zentrale Botschaft bleibt die gleiche: die Bedeutung des Kampfes des Guten gegen das Böse.

  • Albrecht Dürer
    Die Geburt Mariens

    Bei diesem Holzschnitt handelt es sich um eine Schwarz-Weiß-Darstellung auf Büttenpapier. Das Blatt stammt aus der Grafischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart und misst etwa 30 x 21 Zentimeter. Es zeigt einen Blick durch einen Rundbogen in ein Zimmer. Dort haben sich zahlreiche Frauen in der Nähe eines Bettes versammelt, in dem eine erschöpfte Frau ruht. Über der Szene schwebt ein Engel. Er schwenkt ein Weihrauchfass.

    Das Bett befindet sich etwas rechts von der Bildmitte. Es hat einen Baldachin und Vorhänge. Die geöffneten Vorhänge sind mit ihren Enden um die Bettpfosten geschlungen. Im Bett lehnt Anna, die Mutter Marias, an einem Kissen am Kopfende. Die kraftlosen Hände liegen im Schoß auf der Decke. Anna sieht vor sich hin. Eine der am Kopfende stehenden Frauen reicht ihr einen Teller. 

    Eine andere Frau sitzt vor dem Bett am Fußende. Ihr Oberkörper liegt, den Kopf auf den Arm gebettet, auf der Matratze. Sie scheint zu schlafen.

    Rechts unten im Bild hockt eine Frau vor einem hölzernen Zuber auf dem Ende einer Bank. Sie hält ein Baby – die neugeborene Maria – auf den Knien. Die kleine Maria ist in ein Tuch gewickelt und streckt das rechte Ärmchen nach oben. Die Frau betrachtet ihr Gesicht. 

    An einem Tisch neben ihr sitzen zwei Frauen in geschnürten Kleidern und mit voluminösen Hauben. Eine reicht der anderen einen Becher. Auf dem Tisch steht ein Korb, neben dem ein Messer liegt. Vor dem Tisch steht mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen eine junge Frau. Sie hält eine Kanne. Eine von den Frauen mit Haube mustert sie. 

    Links unten im Bild sitzt eine Frau am Boden, die ein stehendes Kleinkind unter der Achsel stützt. Rechts neben den beiden trinkt eine ältere Frau aus einer Kanne. Eine dritte Frau hat auf einem Stuhl nahe bei den Dreien Platz genommen. Sie hält die Arme unter der Brust verschränkt und lächelt. 

    An der linken Wand des Zimmers sind verschiedene Gegenstände auf einem Sims und einer Truhe platziert, darunter ein Kerzenleuchter mit heruntergebrannter Kerze, eine Schere und ein Buch.

    Über allem schwebt der Engel mit ausgebreiteten Flügeln in einem Wolkenmeer. Er nimmt nahezu das gesamte obere Drittel der Darstellung ein. Rauchschwaden aus dem Weihrauchfass breiten sich unter ihm nach links und rechts aus.

    Es sei unmöglich ihn „an Erfindung, Anordnung der Perspektive, an Gebäuden und Trachten, an jungen und alten Köpfen zu übertreffen.“

    So urteilte Giorgio Vasari, der berühmte italienische Künstlerbiograph, über einen der wohl wichtigsten nordeuropäischen Künstler, der im Herbst 1505 die Alpen überquerte und Venedig besuchte: Albrecht Dürer.

    Schon vor seiner Abreise nach Italien hatte Dürer 17 der insgesamt 19 Holzschnitte veröffentlicht, die er später zu seinem Zyklus „Das Marienleben“ zusammenfassen sollte. Dieser Zyklus schildert in bewegten Szenen das Leben der Gottesmutter: von der Hoffnung und Erwartung ihrer Eltern, über ihre Geburt, ihr Aufwachsen und ihre Verlobung mit Josef, über die Verkündung, die Geburt Jesu, die Flucht nach Ägypten, bis hin zum Auszug des Sohnes und dem Tod und der Krönung Mariens.

    Bei den italienischen Künstlern stießen die Blätter des Marienzyklus auf reges Interesse und schon bald kursierten Nachdrucke der Holzschnitte. Lassen Sie Ihren Blick über Dürers „Geburt Mariens“ wandern: Im Bildvordergrund sind zahlreiche Frauen zusammengekommen, um dem Ereignis beizuwohnen, das sich soeben im Hintergrund ereignet hat: Anna liegt von den Strapazen der Geburt erschöpft in einem großen Himmelbett. Rechts vorn badet eine Frau den neugeborenen Säugling in einem hölzernen Zuber. Im oberen Teil des Blattes hat sich der Himmel geöffnet und gibt den Blick auf einen Weihrauch schwenkenden Engel frei.

    Hatte Vasari den Erfindungsreichtum, die Perspektive und die charaktervolle Darstellung von Gesichtern jeglichen Alters gerühmt – hier ist alles zu entdecken. Dürers Bildfindungen übten einen prägenden Eindruck auf die venezianischen Künstler im Allgemeinen und den nur wenig älteren Carpaccio im Besonderen aus.

    Wenn Sie sich jetzt noch die anderen Werke aus Dürers „Marienleben“ anschauen, können Sie dabei einem Musikstück von Josquin Desprez lauschen. Desprez war einer der berühmtesten und ideenreichsten Komponisten der Renaissance und wirkte an verschiedenen Höfen in Italien und Frankreich. Sie hören seine Motette „O bone et dulcis Domine Jesu“ – „oh, guter und lieblicher Herr Jesus“.

  • Vittore Carpaccio
    Geburt Mariens

    Das Gemälde hat ein nahezu quadratisches Format und ist mit Ölfarben auf eine Leinwand gemalt. Seine Seiten messen knapp 130 Zentimeter. Es ist eine Leihgabe der Fondazione Accademia Carrara in Bergamo, Italien.

    Dargestellt ist die Geburt Marias in einem Zimmer mit Balkendecke und großzügiger Bettnische. 

    Den Vordergrund bilden vier Frauen, ein Mann und das Baby. Am linken Bildrand steht, im Profil dargestellt, Joachim, der Vater des Kindes. Er hat einen langen grauen Bart und trägt eine rotbraune Tunika über einem gelben Gewand, dazu eine braune Mütze mit weißem Rand. Er stützt sich mit beiden Händen auf einen Stock. Etwas entfernt vor ihm steht ein flacher Zuber auf dem ähnlich einem Schachbrett gemusterten Fliesenboden. Rechts neben dem Zuber sitzt eine Amme. Die ältere Frau trägt einen hellbraunen Schleier, der ihr über Schultern und Brust fällt. Auf den Knien der Amme liegt die neugeborene Maria. Ein weißes Tuch bedeckt Bauch und Hüften des Säuglings. Marias Kopf ist von einem zarten, hellen Heiligenschein umgeben. 

    Rechts unten im Bild sitzt eine Frau auf einem Teppich, der über ein niedriges Mäuerchen gebreitet ist. Sie wickelt eine weiße Binde auf. Die junge Frau trägt ein goldfarbenes Untergewand mit einem ärmellosen blauen Kleid darüber. Das Kleid hat hinten im Nacken einen kleinen V-Ausschnitt. Die Haare der Frau sind unter einem turbanartig gewickelten hellen Tuch verborgen. Sie blickt mit großen Augen auf das Neugeborene. 

    Am rechten Bildrand befindet sich die hohe Bettnische. Die schweren roten Vorhänge sind geöffnet. Anna, die Mutter, liegt seitlich im Bett unter einem weißen Laken, das über eine rote Decke geschlagen ist. Den Kopf hat sie in die rechte Hand gestützt. Über mehreren Gewändern trägt sie einen blauen Mantel mit Goldborten am Saum. Er liegt über ihren Schultern. Dazu trägt Anna eine eng anliegende Haube. Sie sieht nachdenklich in Richtung der Frau auf dem Mäuerchen. Am Kopfende des Bettes steht eine Dienerin in rotem Gewand. Sie hält eine flache Schüssel und einen Löffel. An der Wand hinter ihr befindet sich ein hohes Sims mit Gefäßen und einem Kerzenleuchter. Darüber hängt eine hölzerne Tafel mit hebräischen Schriftzeichen. Ein kleiner dunkelgrüner Vorhang darüber ist nach rechts zur Seite genommen.

    Im Mittelgrund der linken Bildhälfte verleihen Ausblicke aus dem Zimmer der Darstellung räumliche Tiefe. Ganz links ist ein Fenster angeschnitten, durch das eine Hügellandschaft mit Laubbaum zu sehen ist. Durch eine geöffnete Tür daneben fällt der Blick in die Küche und weitere Zimmer dahinter. In der Küche hängt ein Topf über einem Feuer. Eine Frau trocknet ein weißes Tuch vor den Flammen. Zwei Hasen sitzen auf dem Boden vor dem Durchgang.

    Vittore Carpaccio gilt als „master storyteller”, als einer der besten Geschichtenerzähler seiner Zeit. Und hier hat er seine Meisterschaft augenfällig unter Beweis gestellt. Das Gemälde zeigt die Geburt Mariens, der späteren Muttergottes, in einem wohlhabenden Haushalt: Eine Amme schickt sich an, das Kind in einem flachen Holzzuber zu baden. Eine Dienerin kümmert sich um Anna, die Wöchnerin. Vorn hat sich eine Frau auf einem Mäuerchen niedergelassen, um eine Binde aufzuwickeln. Und in den hinteren Räumen sind zwei weitere Dienerinnen bei der Hausarbeit zu sehen. Nur Joachim, der einzige Mann im Bild, ist untätig. Er hat sich auf seinen Stock gestützt und blickt versonnen auf die Szene.

    Carpaccio schuf das Gemälde als Auftakt einer sechsteiligen Serie für die Scuola degli Albanesi, den Treffpunkt der albanesischen Gemeinschaft in Venedig. Er lässt die Szene in einem wohlhabenden venezianischen Haushalt spielen und schmückt sie mit zahlreichen, scheinbar nebensächlichen Details aus. Lassen Sie Ihren Blick einmal wandern: Sie sehen eine typische Holzbalkendecke, opulente Wanddekorationen, Vasen und Gefäße auf einem Gesims und nicht zuletzt eine Wandtafel mit hebräischen Schriftzeichen.

    Unmittelbar bevor Carpaccio seine „Geburt Mariens“ schuf, war in Venedig eine Art Lehrbuch für die hebräische Sprache erschienen. Die korrekt wiedergegebene Inschrift entstammt diesem Werk. Carpaccio ging es allerdings nicht darum, eine vermeintliche Wirklichkeit in einem jüdischen, venezianischen Haushalt darzustellen. Mit der Schrifttafel gelang es ihm vielmehr, verschiedene Zeitebenen miteinander zu verschränken: Die Legende der Geburt Mariens, die in vorchristlichen Zeiten liegt, lässt er in einem zeitgenössischen Interieur spielen. Die Schrifttafel, die seine Mitmenschen kaum entziffern konnten, unterstreicht die historische Kluft – trotz aller Aktualisierungen und Alltagsbezüge.

    Werfen Sie, bevor Sie weitergehen, noch einen Blick auf die sitzende Frauenfigur rechts im Vordergrund. Sie werden Ihr im nächsten Raum wiederbegegnen.

  • Vittore Carpaccio
    Die Flucht nach Ägypten

    Dieses Querformat ist mit Ölfarben auf Holz gemalt. Es ist etwas mehr als 70 Zentimeter hoch und über einen Meter breit. Das Gemälde ist eine Leihgabe der National Gallery of Art in Washington.

    Im Vordergrund ist Maria mit dem Jesuskind, auf einem Esel reitend, dargestellt. Der vorangehende Josef führt das Tier an einem Strick nach rechts. Die Familie zieht durch eine hügelige Landschaft mit Flussläufen. Im Hintergrund links rudern ein paar Männer einen Kahn auf einem kleinen Fluss an einem Gehöft vorbei. Die üppigen grünen Wiesen entlang der Wasserläufe blühen. Über den Gipfeln am Horizont sind Himmel und Wolken in das orangefarbene Licht der Morgendämmerung getaucht, das auf einer bewaldeten Hügelkuppe rechts wie ein Feuerschein wirkt. 

    Entlang des unteren Bildrandes verläuft ein durch kleine runde Steine begrenzter Weg. Darauf trottet der Esel, mit halbgesenktem Kopf und angelegten Ohren, auf seinem Rücken Mutter und Kind. Josef geht neben dem Weg in knöchelhohem Grün. Über Maria, dem Jesuskind und Josef schwebt je ein Heiligenschein. Die Figurengruppe nimmt fast die gesamte Breite des Querformats ein. 

    Maria, links im Bild, sitzt seitlich auf dem braungrauen Tier. Sie trägt ein rotes, goldgesäumtes Kleid, darüber einen weiten Mantel aus gold-blauem Brokatstoff, bestickt mit Pflanzenmotiven und Füllhörnern. Der Mantel bedeckt ihre Haare und verhüllt ihren Körper, so dass die Konturen von Armen und Beinen kaum sichtbar sind. Maria sieht nachdenklich versonnen auf ihren Sohn.

    Der steht seiner Mutter zugewandt auf ihrem Oberschenkel. Sie stützt den etwa 2jährigen Jesus mit übereinander gelegten Händen im Rücken. Das Kind ist in ein Gewand aus weißem Leinen gekleidet. Es berührt mit seiner linken Hand das Kinn der Mutter, der Zeigefinger der Rechten betastet die eigene Unterlippe. Der Blick des Knaben ist auf die Betrachtenden gerichtet.

    Der voranschreitende Josef, rechts im Bild, hält den Führstrick in der Rechten, in der Linken einen brusthohen Wanderstock. Er trägt ein knielanges blaues langärmeliges Gewand mit Goldsäumen, darüber einen am Hals verknoteten roten Mantel. Seine Füße stecken in knöchelhohen schwarzen Schuhen. Josef hat lichtes graues Haar und einen dichten grauen Vollbart. Er blickt im Gehen zurück zum Esel.

    „‘Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich’s dir sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.‘ Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten.“

    So berichtet es das Matthäus-Evangelium... In Carpaccios Gemälde dämmert bereits der Tag. Josef, Maria, das Jesuskind und der Esel müssen seit Stunden unterwegs sein. Die hügelige Landschaft, die sie durchqueren, ist von Flussläufen durchzogen, auf denen Kähne schwimmen. Sie ähnelt der Landschaft rund um Venedig.

    Carpaccio setzt auf den Wiedererkennungs-Effekt: All die Kaufleute, die Venedig auf dem Land- und Wasserweg erreichten und verließen, dürften die Lagunenlandschaft wiedererkannt haben. Er zitiert nicht nur den Alltag der Betrachtenden und steigert dadurch die Attraktivität des Werks. Er holt auch die biblische Erzählung in seine Gegenwart: Wenn die Rettung des Christusknaben förmlich vor der eigenen Haustür stattgefunden haben könnte, so ist sie auch für seine Zeitgenossen relevant.

    Auch der kostbare, golddurchwirkte Brokatstoff, aus dem Marias Mantel gefertigt ist, kann als Hinweis auf Carpaccios Heimatstadt gelten: Schließlich waren zahlreiche venezianische Familien durch den Textilhandel – namentlich den Handel mit edlen Stoffen – reich geworden.

    Über den Auftraggeber oder den ursprünglichen Aufstellungsort des Gemäldes ist nichts bekannt. Vermutlich wurde es in einem Privathaushalt zur häuslichen Andacht genutzt – vielleicht von einer reichen Kaufmannsfamilie?

  • Giovanni Bellini
    Christus am Kreuz

    Dieses etwa 80 Zentimeter hohe und knapp 50 Zentimeter breite Gemälde hat der Künstler mit Ölfarben auf Holz gemalt. Die Tafel befindet sich im Besitz der Banca Popolare in Vicenza, Italien. 

    Dargestellt ist der gekreuzigte Jesus vor einer hügeligen Landschaft mit einer Stadtansicht. 

    Der Längsbalken des ebenmäßigen hellbraunen Kreuzes teil das Gemälde in zwei Hälften. Er erstreckt sich von der unteren bis fast zur oberen Bildkante. Am oberen Ende des Längsbalkens befindet sich eine kleine Tafel, auf der in Griechisch, Hebräisch und Latein „Jesus von Nazareth, König der Juden“ steht. 

    Der Querbalken verläuft sehr weit oben im Bild. Die Füße des Gekreuzigten befinden sich etwa in der Bildmitte. Um seine Lenden ist ein weißes Tuch geschlungen. Am schlanken Oberkörper treten die Rippen hervor. Der Kopf ist leicht nach rechts geneigt, die Augen sind geschlossen. Die untere Gesichtshälfte liegt im Schatten. Jesus hat schulterlanges welliges Haar und einen kurzen Vollbart. Seinen Kopf umgibt ein Kranz aus Dornen, darüber leuchtet ein goldgelber Heiligenschein. 

    Die Wunden um die Nägel in Händen und Füßen sind relativ klein, die wenigen Blutspuren erscheinen blass rot. Eher unauffällig ist auch die Wunde im rechten Brustbereich. 

    Fünf menschliche Schädel liegen rechts am Fuß des Kreuzes nebeneinander auf dem steinigen Boden. Auf der linken Seite kriecht eine Eidechse über einen Felsen vor einem Grabstein mit hebräischer Inschrift. In der dunkelgrün-grauen Landschaft dahinter stehen weitere Grabsteine zwischen kahlen Bäumen. Auf einem Ast mittig am linken Bildrand sitzt eine kleine weiße Taube. Aus einem schlanken Stamm, der parallel zur linken Bildkante verläuft, wachsen drei Lorbeertriebe empor. Ihr Grün erstreckt sich über das obere Viertel der linken Bildhälfte. Am Horizont, eingebettet in die Hügellandschaft, befinden sich ein Gehöft mit Mühle und eine Stadt aus hellem Stein, mit Türmen und verschiedenfarbigen Dächern, die in den blauen, leicht bewölkten Himmel ragen. 

    Christus am Kreuz – eines der zentralen Motive in der christlichen Kunst. Doch wie gestaltet Giovanni Bellini diesen Topos der Kunstgeschichte aus?

    Er rückt das monumentale Kreuz direkt an die Bildgrenze, in gewisser Weise in den Raum der Betrachtenden. Und das massive Holzkreuz reicht über die gesamte Höhe der Tafel; es versperrt gleichsam den Eintritt in den Bildraum. 

    Während Carpaccio daran gelegen ist, die Betrachtenden auf eine Reise durch die Erzählung seiner Gemälde mitzunehmen, folgt Giovanni Bellini einer gänzlich anderen Idee: Seine Komposition lädt nicht zum Erkunden eines halb imaginären, halb realistischen Raumes ein – sie fordert zur Meditation auf. Die Schädel, die am Fuß des Kreuzes wohlgeordnet auf dem steinigen Boden liegen, verweisen auf die Vergänglichkeit und die Erbsünde Adams, die dem christlichen Glauben nach durch den Opfertod Christi getilgt wurde. Hinter dem Kreuz erheben sich ein paar kahle Bäume, nur am linken Bildrand hat ein einzelner Ast eine neue Krone ausgebildet – ein symbolischer Verweis auf die Ablösung des Alten Bundes (also des Judentums) durch das entstehende Christentum. 

    Im Hintergrund, links neben dem Kreuz, sind zwei markante Bauten der Stadt Vicenza zu sehen: der Dom und die Torre Bissara, einer der höchsten Türme der Stadt, errichtet von der Familie Bissari. Zudem sind der Dom von Ancona sowie vermutlich der Glockenturm von Santa Fosca in Venedig dargestellt.

    Obwohl die Landschaft und die Stadt im Hintergrund durchaus realistisch gestaltet sind, versperrt sich das Gemälde einem erzählerischen Zugang. Giovanni Bellini zeigt uns den Tod am Kreuz, über den wir im Moment der Bildbetrachtung nachdenken sollen. Er gibt uns keine Anleitung zur Anschauung seines Werkes, sondern fordert uns zur religiösen Mediation über das dargestellte Heilsgeschehen auf.

  • Vittore Carpaccio
    Martyrium des hl. Stephanus

    Dieses Gemälde aus dem Bestand der Staatsgalerie Stuttgart hat eine Höhe von etwa 150 Zentimetern und ist 170 Zentimeter breit. Das Querformat ist mit Ölfarben auf Leinwand gemalt.

    Das Bild zeigt im Vordergrund eine Ansammlung von Männern, von denen einige faustgroße Steine in den Händen halten. Ein paar zielen auf einen knienden Mann mit Heiligenschein. Im Hintergrund erhebt sich links eine Stadt neben einer Gebirgslandschaft, die in abendliches Licht getaucht ist. 

    Vor den bewaldeten Bergen kniet mittig am rechten Bildrand Stephanus, der Mann mit Heiligenschein. Mit erhobenen Händen blickt er in den Himmel auf eine Erscheinung. Diese ist als gold-orange Fläche, umgeben von grauen Wolken, in der rechten oberen Bildecke dargestellt. Stephanus hat schulterlange gewellte hellbraune Haare. Er trägt eine reich verzierte, rot-gold durchwirkte Tunika über einem weißen Untergewand. Die goldenen Kreuze auf der Tunika sowie eine rote Stola mit goldenem Kreuz über seinem linken Handgelenk kennzeichnen ihn als christlichen Diakon.

    Um Stephanus stehen einige Männer mit Turbanen, gegürteten Gewändern und Stiefeln. Sie heben Steine auf oder haben sie zum Wurf erhoben. Auf einer Anhöhe in ihrer Mitte steht ein Mann, der nur von hinten zu sehen ist und mit ausgestrecktem Arm nach rechts auf Stephanus deutet. In seinem Rücken, in der linken unteren Bildecke, drängen sich Männer mit langen Bärten und drei Soldaten. Diese tragen Brustpanzer und Langschwerter oder Hellebarden. Einer der Soldaten hat verschiedenfarbige enge Beinkleider mit unterschiedlichen Mustern an. 

    In seiner Nähe, links unten im Bild, sitzt ein Mann in langer roter Hose und schwarzem Wams auf dem Boden. Auf dem Kopf trägt auch er einen Turban. Es handelt sich um Saulus, der später nach seiner Bekehrung zum heiligen Paulus werden wird. Saulus blickt - wie Stephanus - in den Himmel zu der gold-orangen Erscheinung. 

    Links oben im Bild bedecken die eng aneinander stehenden Häuser der Stadt eine Hügelkuppe. Türme ragen in den blauen Himmel darüber. Die Stadt ist ringförmig von einer hohen Mauer umgeben. Aus einem Torbogen links strömen Menschen auf einem Weg aus der Stadt. Einige reiten auf Pferden. Andere sind stehen geblieben und blicken in Richtung der um Stephanus versammelten Männer.

    „Als sie das hörten, ging’s ihnen durchs Herz und sie knirschten mit den Zähnen über ihn. Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes […] und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen […]. Sie schrien aber laut und […] stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn.“

    So beschreibt die Apostelgeschichte den Tod des ersten christlichen Märtyrers. Stephanus war in der Jerusalemer Urgemeinde zum Diakon – also zum Seelsorger – gewählt worden. Später wird er vor den Hohen Rat zitiert, der Gotteslästerung angeklagt und hingerichtet.

    Carpaccio lässt die Szene vor den Toren von Jerusalem spielen. Sie sehen die Stadt links im Bild. Rechts kniet Stephanus und blickt andächtig in den sich öffnenden Himmel. Doch die ersten Männer haben bereits Steine ergriffen und sind im Begriff sie auf den Diakon zu werfen.

    „Und sie steinigten Stephanus; der rief den Herrn an und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an.“

    Wer sind diese Männer? Carpaccio stattet sie mit den unterschiedlichsten Merkmalen aus: Die Männer mit den weißen Turbanen tragen osmanische Tracht. Andere haben lange, weiße Bärte und Tücher um ihre Häupter geschwungen – es sind die in der Apostelgeschichte erwähnten Schriftgelehrten. Wieder andere sind durch ihre gemusterten Beinkleider als nordeuropäische Landsknechte zu erkennen.

    Auch hier verlässt Carpaccio den historischen Rahmen der biblischen Erzählung, um das dargestellte Geschehen zu aktualisieren: Einige der Feinde des Märtyrers Stephanus sind dieselben, die zu seinen Lebzeiten auch die Republik Venedig bedrohen.

    Er schuf sein Gemälde für die Scuola di Santo Stefano – eine venezianische Laienbruderschaft, deren Mitglieder sich auch der Armenfürsorge widmeten. Das Werk gehört zu einem fünfteiligen Gemäldezyklus, der das Leben des Namenspatrons Stephanus im Schnelldurchlauf erzählt. Die vier erhaltenen Werke des Zyklus sind im Mediaguide abgebildet. Achten Sie beim Betrachten vor allem auf die Lichtverhältnisse: Findet die Weihe des jungen Diakons noch im hellen Morgenlicht statt, die Predigt um die Mittagszeit, die Disputation vor dem Hohen Rat am Nachmittag, erglüht die Steinigung schließlich in den warmen Rottönen des heraufziehenden Abends. 

    Während Sie sich die verschiedenen Stephanus-Szenen anschauen, können Sie einem Musikstück von Adrian Willaert zuhören – als einer der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit wirkte er über Jahrzehnte als Kapellmeister am Markusdom in Venedig. Er widmete dem Heiligen eine Motette: „Beatus Stephanus“ – „Seeliger Stephanus“.

  • Vittore Carpaccio
    Maria mit Kind und Johannesknaben

    Dieses Hochformat wurde zunächst in Mischtechnik auf Holz gemalt und später auf Seide übertragen. Es misst in der Höhe knapp 70 Zentimeter, in der Breite 55 Zentimeter. Das Gemälde wurde aus dem Städel Museum in Frankfurt am Main für diese Ausstellung entliehen. 

    Die kleine Tafel zeigt die betende Maria, den etwa sechs Jahre alten Jesus und den wenig älteren Johannes in einem Raum mit einer fensterartigen Öffnung. Eine Brüstung verläuft entlang der unteren Bildkante.

    Maria steht rechts im Bild vor einem blauen Vorhang. Sie ist vom Kopf bis zur Hüfte abgebildet. Ihr Blick ist nach unten gerichtet. Die Handflächen hat sie vor der Brust zum Gebet aneinandergelegt. Maria trägt ein dunkelbraunes Kleid mit bronzefarbenen weiten Ärmeln. Unter der Brust ist es mit einer Kordel geschnürt. Die Haare sind mit einem transparenten Schleier verhüllt, der auch einen Teil der Stirn bedeckt. Um Kopf und Hals hat sie ein weißes langes Tuch geschlungen. Über der Brüstung zu ihrer linken Seite liegt ein dunkelblauer Mantel.

    Rechts neben ihr, nahezu in der Bildmitte, steht Johannes. Er hat rötlichbraune Haare und trägt ein olivfarbenes Gewand. In der linken Hand hält er ein kleines Kreuz, mit der Rechten deutet er auf ein Buch in den Händen des Christuskindes.

    Der kleine Jesus sitzt mit vorgestreckten Beinen auf einem grünen Kissen links auf der Brüstung vor der fensterartigen Öffnung. Er trägt ein langärmeliges weißes Hemd, eine braune Tunika, eine rote silberbestickte Kappe und rote geschnürte Schuhe. Um seinen Hals liegt eine Kette, um sein rechtes Handgelenk ein Armband. Beide bestehen aus braunen Perlen. Auf seinen Knien hält er das kleine, aufgeschlagene Buch. 

    Durch die Öffnung hinter dem Jesusknaben sieht man in eine grüne Landschaft mit Schafen auf einer Weide. Ein Hügel mit Bäumen wird von Turmspitzen einer dahinterliegenden Stadt überragt. Der am Horizont milchig weißrosafarbene Himmel geht nach oben hin in ein blasses Blau über. 

    Die Signatur Carpaccios ist in weißen Buchstaben vorn auf die dunkelbraune Brüstung geschrieben.

    Das Christuskind, der wenig ältere Johannes und Maria haben sich zum Gebet zurückgezogen. Jesus sitzt auf einer Brüstung, die den Außen- vom Innenraum trennt. Er wird zum Mittler zwischen der Welt draußen und dem privaten Raum der Andacht. 

    Er trägt Hemd, Tunika, eine rote Kappe, eine Perlenkette und zierliche rote Schühchen – eine für venezianische Kleinkinder des frühen 16. Jahrhunderts typische Kleidung. Doch während seine Mutter schon die Hände zum Gebet gefaltet und das Haupt gesenkt hat, sind die beiden Knaben noch nicht zur andächtigen Ruhe bereit: Das Christuskind blättert etwas ungelenk in einem Psalter. Johannes deutet mit der rechten Hand auf das Buch, lenkt den Blick des Christuskindes dadurch aber auf sich. Die fromme Geste der Muttergottes findet bislang keine Nachahmer und das stille Gebet muss noch warten.

    Für wen Carpaccio diese lebensnahe Szene schuf, ist nicht bekannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass sie der häuslichen Andacht diente und ein Frauengemach schmückte. Frauen – so meinte man in Venedig um 1500 – sollten in ihren Gemächern bleiben und dort die Kinder religiös bilden. Die abgebildete Szene könnte also als nachzuahmendes Vorbild gedient haben… wobei die beiden unkonzentrierten Knaben für eine gewisse Realitätsnähe gesorgt haben dürften.

    Eine ähnliche Szene von Carpaccios Hand ist als Entwurfszeichnung überliefert. Sie sehen Sie als zweite Abbildung dieser Station. Hier sitzen sowohl die Gottesmutter als auch das Christuskind auf einer Brüstung oder in einer Fensteröffnung. Maria hat ein Buch geöffnet und blickt über die Seiten zu ihrem Sohn hinüber. Dieser sitzt auf einem Kissen und scheint der Mutter aufmerksam zuzuhören – endlich!

  • Vittore Carpaccio
    Lesende Maria

    Dieses Gemälde wurde zunächst auf Holz gemalt und dann auf Leinwand übertragen. Das Hochformat ist knapp 80 Zentimeter hoch und etwa 50 Zentimeter breit. Es stammt aus der National Gallery of Art in Washington. 

    Das Bild zeigt Maria, die auf einer Balkonbrüstung sitzt und in ein aufgeschlagenes Buch blickt. 

    Der Balkon ragt von rechts ins Bild und nimmt fast die untere Hälfte des Gemäldes ein. Über der gemauerten weißen Brüstung, die am unteren Bildrand verläuft, liegen ein blauer Mantel und ein grün gesäumtes Tuch mit goldrotem Muster. Maria sitzt seitlich darauf. Sie trägt ein rotes Kleid mit weiten orangefarbenen Ärmeln. Der runde Halsausschnitt ist von einer breiten silbernen Bordüre umrandet. Unter ihrem turbanartig um den Kopf geschlungenen hellbraunen Tuch kommen im Nacken einige kurze blonde, gewellte Strähnen hervor. Über Hinterkopf und Nacken fällt ein transparenter Schleier bis auf die Schultern herab. Ein schmaler goldglänzender Heiligenschein umgibt Marias Kopf. 

    Konzentriert blickt sie auf die Seiten des kleinen Büchleins in ihren Händen. Es hat einen roten Einband und ein rotes Lesebändchen, das davon herabhängt.

    Auf der Balkonbrüstung am linken Bildrand sind Schulter und Zehen des Jesuskindes, das sitzend an einem Kissen lehnt, sowie ein winziger Teil seines Heiligenscheins zu sehen. 

    Hinter dem Balkon erstreckt sich eine von Büschen und Sträuchern gesäumte Wiese, auf der zwei Bäume stehen. Der Baum links ist nahezu kahl, der rechte belaubt. Am Horizont liegt eine Küstenlandschaft mit mehreren Hügeln in Grün- und Blautönen. Die Hügel fallen von rechts nach links sanft zur glatten Wasserfläche hin ab. Rechts am Ufer befinden sich einige Gebäude und ein schlanker Turm, die sich hell vor einem dunkelgrünen Hügel abheben. 

    Links oben im Bild, über der Wasserfläche, stehen weiße und graue Wolken. Nach rechts klart der Himmel auf.

    Aufmerksam und ganz in den Text versunken liest Maria in einem Buch. Wir sehen sie von schräg hinten, auf einer Brüstung sitzend. 

    Im Gegensatz zu traditionellen Mariendarstellungen trägt sie kein rotes Gewand mit einem blauen Mantel, sondern ein hellrot-orangefarbenes Kleid mit aufwendiger Bordüre, das der venezianischen Mode um 1500 entspricht. Auf dem Kopf: ein turbanähnliches Tuch mit Schleier. Hinter ihr öffnet sich eine Wasserlandschaft mit Stadtansicht.

    Das Jesuskind, dessen linker Arm und Fuß am linken Bildrand noch zu sehen sind, war Teil des ursprünglich größeren Gemäldes: Es ging aber verloren, als das Bild später beschnitten und so verkleinert wurde. 

    Übrig blieb die lesende Maria, eine eindrucksvolle, monumentale Figur. Dass die Gottesmutter mit einem Buch in der Hand dargestellt wird, ist nichts Ungewöhnliches. In der katholischen Kirche trägt sie auch den Beinamen „Sedes Sapientiae“ – Sitz der göttlichen Weisheit; das Buch ist also ein geläufiges Attribut. Dass sie allerdings aktiv und konzentriert in diesem Buch liest, ist eher originell.

    Carpaccio zeigt uns Maria also nicht nur als eine zentrale Figur der religiösen Verehrung. Er kleidet sie in eine zeittypische Mode, lässt sie in einer an Venetien erinnernden Landschaft Platz nehmen und erhebt sie zu einem Vorbild weiblicher Bildung und Lesekultur – zu einer Identifikationsfigur.

    Tatsächlich nehmen Frauen in den Gemälden Carpaccios einen ungewöhnlich großen Raum ein. Sie treten selbstbewusster auf als in den Werken anderer venezianischer Maler der Zeit. Indem er die Lebenswelt der Frauen – die Beschränkung auf fromme Lektüre – zum Thema seiner Gemälde machte, könnte Carpaccio sich in seinen Werken gezielt an Frauen gewandt haben… als Betrachterinnen und vielleicht sogar als Auftraggeberinnen.

  • Giovanni Bellini und Werkstatt
    Maria mit Kind

    Das Hochformat ist knapp 80 Zentimeter hoch und fast 50 Zentimeter breit. Es ist mit Ölfarben auf Pappelholz gemalt. Das Andachtsbild ist im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart. 

    Dargestellt ist Maria hinter einer niedrigen Brüstung sitzend. Sie hält ihren nackten Sohn, der darauf steht. 

    Mutter und Kind bilden das Zentrum des Gemäldes. Maria trägt einen faltenreichen blauen Mantel, darunter ein violett-changierendes Gewand mit enganliegenden Ärmeln. Über Kopf und Haaren liegt ein weißes Tuch mit Goldborte, das vor der Brust verschlungen ist. Maria hat den Kopf leicht zu ihrer linken Seite geneigt und blickt die Betrachtenden direkt an. Sie hat feine Gesichtszüge, braune Augen, eine kleine Nase mit einem geraden langen Nasenrücken und einen kleinen Mund.

    Das Jesuskind steht schräg vor Maria auf der braun-gemaserten Brüstung. Sein Kopf befindet sich auf Höhe ihrer Halsbeuge. Marias rechte Hand liegt auf der Brust des Sohnes. Der greift mit seiner rechten Hand ihren Daumen und betastet mit der Linken ihren Handrücken. Der Blick des Kindes ist nach unten gerichtet und sein Kopf leicht nach vorn geneigt. Rotblonde Löckchen umrahmen das rundliche Gesicht mit den rosigen Wangen. 

    In ihrer linken Hand, im Rücken des Kindes, hält Maria eine goldene Birne zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger. Der Stiel der Frucht zeigt nach oben. Der goldene Schimmer der Birne lässt Teile ihrer Handinnenseite und Finger ebenfalls golden erscheinen. 

    Dreiviertel des Hintergrundes sind von einem leuchtend roten Vorhang mit feiner Goldborte bedeckt. Am linken Bildrand gibt er den Blick auf eine Stadt mit Türmen und Kuppeldächern hinter einer Mauer mit Zinnen frei. Die Stadt ist in eine bewaldete Hügellandschaft eingebettet. Der Himmel über den Hügelkuppen ist weiß und wird zum oberen Bildrand hin blau. 

    In goldenen Buchstaben hat der Maler seine Signatur an der Brüstung mittig am unteren Bildrand angebracht. Auf dem dunklen Untergrund steht: Ioannes Bellinus.

    Mit ernstem Blick schaut Maria uns an. Sie weiß, dass ihr Kind am Kreuz sterben und durch seinen Tod die Menschheit erlösen wird. Als Zeichen der Erbsünde hält sie … keinen Apfel, sondern eine Birne! in der linken Hand. Mit der rechten hat sie ihren Sohn umfasst, der womöglich noch unsicher im Stehen ist. Die symbolische Szene spielt sich vor einem leuchtend roten Vorhang ab; hinter diesem ist die Stadt Vicenza zu erkennen – eine Nachbarstadt Venedigs.

    Giovanni Bellini und die Maler seiner Werkstatt waren berühmt für ihre Madonnendarstellungen. Sie schufen unzählige Werke… die sich immer in kleinen Details unterschieden. Bellini und seine Helfer arrangierten einzelne Elemente zu immer neuen Kompositionen und entgingen so der Versuchung, ein Erfolgsmotiv in Serie zu fertigen.

    Vergleichen Sie diese Madonna und ihr Kind beispielsweise mit der sogenannten „Madonna Rogers“ in der zweiten Abbildung dieser Station. Beide Gemälde stammen aus der Werkstatt Bellinis; sie sind sich ähnlich – und doch in vielen Details sehr unterschiedlich. Die Birne, der blaue Mantel, die Landschaft im Hintergrund, der nackte Knabe… finden Sie noch mehr unterschiedliche Ähnlichkeiten?

  • Lorenzo Lotto
    Maria mit Kind, Johannesknaben und hl. Petrus Martyr

    Das querformatige Bild ist mit Ölfarben auf Holz gemalt. Es misst 55 Zentimeter in der Höhe und knapp 90 Zentimeter in der Breite. Es stammt aus dem Museo e Real Bosco di Capodimonte in Neapel. 

    Maria sitzt, mit ihrem Sohn auf dem Schoß, vor einem Vorhang. Neben ihr stehen ein Mönch mit einem Messer im Kopf und ein kleiner Junge. Hinter ihnen erstreckt sich eine bergige Landschaft. 

    Maria und das Jesuskind befinden sich im rechten Drittel des Gemäldes. Dort bildet ein grün-orangefarbener Vorhang den Hintergrund. Die Gottesmutter trägt einen blauen Mantel mit goldgelbem Futter über einem roten Kleid. Ein weißer Schleier mit goldfarbener Ornamentborte bedeckt ihre Haare. Sie hat den Kopf nach vorne geneigt und sieht auf ihren Sohn. Der nackte Jesus sitzt auf ihrem linken Oberschenkel. Maria umfasst mit ihrer linken Hand seine Brust. Das Kind hat segnend seine rechte Hand erhoben und streckt Zeige- und Mittelfinger in die Höhe. Um seinen Kopf verläuft ein goldener Strahlenkranz.

    Marias ausgestreckte rechte Hand liegt auf dem Kopf des vor ihr stehenden kleinen Jungen. Es ist Johannes. Er ist mittig am unteren Bildrand vom Kopf bis unter die Brust dargestellt. Johannes hat die Fingerspitzen beider Hände auf seine Brust gelegt und sieht hingebungsvoll zum Christuskind auf. 

    Hinter ihm steht der Heilige Petrus Martyr, auch Petrus von Verona genannt. Er hat ein hageres Gesicht, braune Augen, eine kräftige Nase und große Ohren. Petrus trägt ein weißes Gewand, darüber einen Mantel und einen Überwurf mit Kapuze in Schwarz. Diese Kleidung kennzeichnet ihn als Mönch des Dominikanerordens. Der Mönch hat den Kopf mit den kurzen schwarzen Haaren und der Tonsur in Marias Richtung geneigt. Er blickt entrückt. Oben in seinem Kopf steckt waagerecht die Klinge eines Hackmessers, in seiner Brust ein Dolch. Blassrote Blutspuren finden sich am Ohr und im Brustbereich des weißen Gewandes. In seiner linken Hand hält Petrus einen Palmzweig als Zeichen eines Märtyrers.

    Die weitläufige Landschaft hinter Petrus besteht aus einer Bergkette am Horizont, davor schlängelt sich ein Fluss zwischen bewaldeten Hügeln hindurch. An seinem Ufer sind hinter einer kleinen Brücke hohe Villen, Türme, ein Reiter sowie ein Schäfer mit seiner Herde zu sehen. 

    Wolkenschleier verdunkeln den Himmel in der linken oberen Bildecke und werfen Schatten auf die Landschaft darunter. Nach rechts klart der Himmel auf. Maria und das Jesuskind erscheinen in hellem Licht.

    Rechts unten, auf einem Stück Brüstung, das zwischen Marias Mantel und ihrem Kleid zu sehen ist, hat der Künstler das Gemälde mit einem goldenen Schriftzug signiert.

    Das Christuskind sitzt auf dem Schoß seiner Mutter und hat die Hand zum Segensgestus erhoben. Ihm gegenüber stehen Petrus Martyr und der Johannesknabe in Verehrung des Kindes.

    Das Andachtsbild stammt von Lorenzo Lotto, der circa 45 Jahre jünger als Giovanni Bellini war. Gleichwohl übernahm er in seinem Gemälde ein Motiv, das in der Bellini-Werkstatt entwickelt wurde. Schauen Sie einmal auf die beiden Werke daneben bzw. in den Vergleichsabbildungen im Mediaguide, die Vincenzo Catena und Fra Marco Pensaben zugeschrieben werden. Alle drei Andachtsbilder zeigen die charakteristische Haltung der Maria: Sie hat den Kopf geneigt, umfasst mit der linken Hand das Kind und greift mit dem rechten Arm weit nach vorne. Das Ziel ihrer Geste ist allerdings unterschiedlich: In dem Gemälde von Lorenzo Lotto segnet sie mit ihrer rechten Hand den Johannesknaben. Ursprünglich war hier wohl ein Stifter anstelle des Johannes dargestellt. In den Gemälden von Vincenzo Catena und Fra Marco Pensaben ruht die Hand der Madonna hingegen jeweils auf einem Buch.

    Ein und dasselbe Motiv in unterschiedlichen Werken. Die unübersehbaren Parallelen geben uns einen Einblick in den Arbeitsprozess der Bellini-Werkstatt – eine der größten Malerwerkstätten im frühneuzeitlichen Europa. Und sie zeigen, wie ein beliebtes Motiv immer wieder kopiert und variiert wurde. Mehr als zwanzig Werke gehen auf diese Vorlage zurück!

  • Giovanni Bellini
    Beweinung Christi

    Die Szene ist mit dünnem Pinsel in Tempera auf Holz gemalt und wirkt fast wie eine Zeichnung. Die querformatige Tafel misst 74 Zentimeter in der Höhe und ist fast 1,20 Meter breit. Sie stammt aus der Gallerie degli Uffizi in Florenz.

    Die Darstellung in Grautönen zeigt Maria, den toten Jesus und Johannes, umringt von fünf weiteren Personen vor einem neutralen, gelbbraunen Hintergrund. Die Figuren sind durch feine Schraffuren und Punktierungen sehr plastisch und lebendig gestaltet.

    Mit seinem Rücken lehnt der tote Jesus an seiner Mutter, die schräg links hinter ihm sitzt. Ihre linke Hand umfasst seine Schulter, mit der Rechten stützt sie sich auf dem Boden ab. Um Marias Kopf, Stirn und Hals sind Tücher gewickelt. Darüber liegt ein weiter Schleier. Maria blickt mit halb geschlossenen Augen auf ihren Sohn. 

    Rechts neben dem Toten sitzt Johannes mit angewinkelten Knien. Mit seiner rechten Hand stützt er Jesus im Rücken, mit der Linken hält er den Unterarm des Gekreuzigten. Auf dem Rücken von Jesus‘ schlaff herabhängender Hand ist ein Wundmal zu sehen. Johannes‘ Blick ist darauf gerichtet. Johannes hat lange lockige Haare, die der Künstler detailreich herausgearbeitet hat, und einen Bart. Er trägt ein weites Gewand mit Gürtel. 

    Jesus, zwischen Maria und Johannes, hat schulterlange gewellte Haare und einen kurzen Vollbart. Seine Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge entspannt. Der Kopf ist leicht nach hinten gekippt. Um seine Lenden liegt ein helles Tuch.

    Um Maria, Jesus und Johannes im Zentrum haben sich zwei Frauen und drei Männer versammelt. Links im Vordergrund steht Maria Magdalena. Ihre langen Haare fallen über ihre Brust. Sie trägt ein Haarband um den Kopf und ein faltenreiches Gewand. Sie sieht fassungslos vor sich hin, ihr Mund ist leicht geöffnet. Dahinter, zwischen ihr und Maria, kniet ein Mann mit Turban und Vollbart. Es ist Nikodemus. Er blickt mit sorgenvollem Ausdruck und in Falten gelegter Stirn zu Maria Magdalena.

    Die Frau rechts neben Nikodemus, Maria Kleophae, trägt ein Kopftuch. Sie blickt über das Geschehen vor sich hinweg in die Ferne. Ihr Kopf ist mit blassen Strichen gezeichnet und nur teilweise ausgearbeitet. Rechts neben ihr befindet sich ein weiterer Mann: Josef von Arimathäa. Er hat lichtes Haar und einen dichten Vollbart. Mit zusammengezogenen Brauen folgt er dem Blick der Maria Kleophae. Auch sein Kopf ist nicht so im Detail ausgearbeitet wie die Figuren der zentralen Gruppe.

    Am rechten Bildrand ist schließlich noch ein älterer Mann mit langem weißen Bart im Mönchshabit dargestellt, der von der Forschung nicht identifiziert werden kann. Er sitzt hinter Johannes und sieht unter buschigen Augenbrauen grimmig auf den toten Jesus.

    Eine Vorzeichnung? Eine Vorlage für die Werkstattkollegen? Ein vollendetes Werk?

    Über die genaue Natur dieser Tafel war sich die Forschung lange nicht einig. Sie scheint von Giovanni Bellini selbst geschaffen worden zu sein. Denn die feinen Schraffuren und Punktierungen, die den Figuren und ihren Gewändern eine ungeheure Plastizität verleihen, zeigen eine meisterhafte Präzision.

    Ob die Tafel nun ein eigenständiges Kunstwerk, eine Unterzeichnung oder eine Ideensammlung war – ihr Bildaufbau findet sich auch in einigen anderen Beweinungs-Szenen der Bellini-Werkstatt. Drehen Sie sich einmal zur gegenüberliegenden Wand um: Dort sehen Sie eine Beweinung, die ebenfalls von Bellini und seinen Mitarbeitern stammt und eine ganz ähnliche Komposition zeigt – allerdings in Farbe.

    Der vom Kreuz abgenommene Christus wird von Maria, Johannes und anderen Getreuen gestützt. Johannes, der Lieblingsjünger, präsentiert uns Jesus‘ durchstochene Hand und scheint uns dabei mit seinem Blick direkt anzusprechen. Die anderen Figuren sind in stiller Trauer versunken.

    Das Gemälde kam im Jahr 1852 zusammen mit vielen anderen Meisterwerken an den württembergischen Hof: Wilhelm der Erste hatte die 250 Gemälde umfassende Sammlung Barbini-Breganze in Venedig erworben.

    Ihre Meisterwerke bilden bis heute einen wichtigen Sammlungsbestand der Staatsgalerie Stuttgart. Und die Erforschung und Restaurierung einiger ihrer Werke gab den Anlass zu dieser Ausstellung.

    Wir hoffen, dass Ihnen der Rundgang durch die Malerei der venezianischen Frührenaissance, durch die ebenso realistischen wie phantasievollen Welten des Vittore Carpaccio gefallen hat. Wir würden uns freuen, Sie bald wieder begrüßen zu dürfen. Für heute sagen wir ‚danke schön‘ und auf Wiedersehen.

    Sie hörten eine Führung von Linon Medien in Zusammenarbeit mit der Staatsgalerie Stuttgart.